Körperflüssigkeiten ist ein durchgängiger Zug dieses sonst eher passiven Punkers; als Junge spuckte er in die Fischsuppe seiner Eltern, als Fünfjähriger pinkelte er vom obersten Stock des Hauses auf eine Prozession. "Sein Humor dringt durch Mark und Bein", kommentiert Sids ältere Schwester Lia, die sterbenskrank in einem Athener Hospital liegt. Beim Leser ist diese Wirkung nicht garantiert. Sid, der sich als Möchtegern und Angeber durchs Leben schlägt, ist also eigentlich ein Abgeber: Seinen Beo, einen chinesischen Telefonverkäufer, der dem Romanpersonal wie dem Leser das ganze Buch hindurch mit unerwünschten Anrufen auf die Nerven fällt, sowie seine nach dem vielleicht nicht mehr ganz so elektrisierenden Santana-Song als "Black Magic" eingeführte Kurzzeitgeliebte jedenfalls tritt er im Verlauf der Geschichte an Sotiris, den dumpfen, teiggesichtigen Krankenpfleger seiner Schwester, ab.
Dabei sollte er sich eigentlich nur in Sotiris' Leben einschleichen, um ihn dann für seine tatsächliche oder eingebildete Mißhandlung der Bettlägerigen zu bestrafen. Wozu es schon deshalb nicht kommt, weil der Sid erst einmal zum Komplizen bei der Ermordung des Mädchens Nina machen möchte, die ihn im heimatlichen Dorf als onanierenden Spanner im Gebüsch ertappt hat und der befürchteten Schande wegen aus dem Weg geräumt werden soll.
Es ist ein eigenartiges Gebräu, das Ersi Sotiropoulos in ihrem vierten, in Griechenland mit viel Lob und den beiden wichtigsten Literaturpreisen des Landes bedachten Roman anrührt, mit dem nun erstmals ein Buch der 1953 geborenen Lyrikerin und Erzählerin ins Deutsche übersetzt wurde. Seine durchdringende Geschmacksnote bildet ein zäher Sirup des emotionalen Fatalismus; ein passives Weitertapern zeichnet zumindest alle erwachsenen Hauptfiguren aus.
Angelegt ist das Buch zwar als eine Geschwistergeschichte, in deren Mittelpunkt Sids und Lias schwieriges gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis steht. Wenn Sid die Schwester im Krankenhaus besucht, wenn die beiden miteinander telefonieren, machen sie sich wechselseitig zu Darstellern in ihren widersprüchlichen Kindheitserinnerungen. Doch wird ihre Beziehung nicht wirklich ausgeleuchtet; gleichwertig stehen die aus ihrer jeweiligen Innenperspektive gegebenen Figuren nebeneinander. Ersi Sotiropoulos läßt so lauter subjektive Welten mittlerer Reichweite entstehen, ohne wirkliche Verdichtung oder Entfaltung. Das ist schade, denn das Buch enthält durchaus reizvolle Bilder, um das diffuse Gefühl des Eingeschlossenseins atmosphärisch zu vermitteln. Auch die Krankheit, an der Lia sterben wird, ist ein gelungener Kunstgriff: Der gänzlich erfundene Virus Hcnvmb putscht das Immunsystem im Kampf gegen den vermeintlichen Eindringling so auf, daß es die inneren Organe zerstört - eine angemessene Metapher für die Welt, die hier beschrieben wird: Es ist eigentlich nichts, aber du gehst kaputt daran. "Da uns niemand liebt, sind die Krankenhäuser für uns geradezu ideal", befindet Lia.
So liest sich "Bittere Orangen" wie ein spöttisch-mitfühlender Abgesang auf eine Generation der Schlaffen (mit dem Schnulzentitel der ansonsten gut lesbaren deutschen Fassung sind die Früchte des Pomeranzenbaums gemeint, die als ein etwas ausgetretenes Symbol im Roman herumliegen). Nur den Zornigen, den sentenzenlos Verzweifelten, mithin den Jüngsten scheint die Kraft gegeben, ihre Welt aus eigener Kraft im Gleichgewicht zu halten. Gegen die sich selbst überflüssig Gewordenen kommen allenfalls die Zwölfjährigen an. Das Mädchen Nina schreibt, um der Welt der Scheintoten zu entfliehen. Schreibend, behauptet der Roman, gelingt ihr die Flucht, während die triste Bagage um Sid in einem letzten Bild verpufft.
MICHAEL ADRIAN
Ersi Sotiropoulos: "Bittere Orangen". Roman. Aus dem Neugriechischen übersetzt von Doris Wille. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2001. 197 S., br., 14,50
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